On the road - Moin aus Güstrow

Was Menschen glauben, wovon Kühe träumen. Foto: Annette Steiner

Jeden Morgen fahre ich auf der L 37 von Krakow nach Güstrow. Es passiert immer das Gleiche. Ok. Aber was passiert eigentlich genau?

 Hab ich etwas vergessen? Hastig krame ich in meiner Tasche. Thermosflasche, Futterbox, Handy, Ladekabel, Autoschlüssel, Wohnungsschlüssel, Portemonnaie, Taschentücher. Obst! Obst fehlt. Was ist noch da? Ich schaue auf unserer Terrasse nach. Der Beutel mit den Äpfeln liegt auf der Außenbank. Drei Früchte sind noch im Netz. 

 “Hey, Sebastian, iß mal einen Apfel” , sage ich zu meinem Freund und lege ihm einen auf den Tisch.  “Gute Idee” , antwortet er mir. Okay. Gute Idee. Ich kenne meinen Freund. Wenn er gute Idee sagt, bleibt der Apfel liegen. Sebastian gehört zu den Menschen, die mir immer Recht geben. Weil es einfacher ist, weil ich dann Ruhe gebe. Happy wife, happy life.

Ich weiß, dass der Apfel liegenbleiben wird. Aber, der Blick auf die Uhr verrät: zu spät für eine Diskussion. Außerdem hat er ja “Gute Idee” gesagt. Es gibt keinen Grund, eine Hypothese zu einer Grundannahme zu machen.

 

Lieblingskaffeebecher. Geschenk meines Bruders (arbeitet beim Film). Foto: Annette Steiner

Ich greife nach meinem weißen Thermobecher. Er ist aus weißem Kahla-Porzellan mit vielen türkisblauen Silikonringen. 40 Jahre Goldener Spatz ist in goldenen Buchstaben am dicken oberen Rand aufgedruckt. 

 Erst kommt die Milch dann der Kaffee! Einmal Querdenker sein

 Der Inhalt sieht perfekt aus. Erst der Milchschaum, dann der Kaffee. Warum diese Reihenfolge? Weil ich darauf bestehe. Nein. Nicht deswegen. Weil man dann keinen Löffel benötigt und sich Milch und Kaffee bereits vermischt haben. Ich habe es gegoogelt. Die Theorie stimmt nicht. Aber ich will einmal im Leben Querdenker sein. 

 Der Kaffee ist noch viel zu heiß zum trinken. Der Milchschaum steht schnittfest. Deckel drauf. Jetzt aber hopp. Wir verabschieden uns. Er wird jetzt vier Tage nach Schleswig-Holstein fahren. Wie jede Woche. Es ist immer ein wenig traurig, wenn losfährt - aber auch ein wenig schön. Ich habe jede Menge Platz, die Wohnung wird größer.

Natürlich wasche ich mein Auto. Irgendwann.

 Auf dem Marktplatz steht mein guter alter goldener Golf. Morgenkühle. Menschen gehen zum Bäcker und zum Rathaus gegenüber. Gleich wird es spannend! Springt er an? Während ich darüber nachdenke, öffne ich die hintere Tür auf der Fahrerseite und lege meine Tasche auf die Rückbank, schlinge den Henkel einmal um die Kopfstütze, damit nichts herausfallen kann. 

 Ach Goldi, du müsstest auch mal wieder gewaschen werden. Eine Stimme in mir meldet sich: Das sagst du auch jeden Tag. Mach doch einfach mal! Ich mach das schon, kontere ich meinem eigenen Ich.

 Hastig steige ich ins Auto. Gut aufpassen, denn ich darf nicht die Zentralverriegelung drücken, sonst gehen die Fensterheber nicht mehr, weil es die Sicherung raushaut. Krisen sind vorhersehbar. Ich habe gerade neue 15 Ampere-Sicherungen bestellt. 

 Ich seufze ein wenig. Goldi ist nicht nur von außen schmutzig, auch innen hat Staub eine Heimat gefunden. Ich stecke den Zündschlüssel ins Schloss und drehe nach rechts. Der Motor leiert ein wenig, aber die Zündung erbarmt sich dann doch und ein kräftiges Motorengeräusch erlöst mich von meiner Angst.

 

golf
Mein goldener Golf. Geschenk meines Bruders (will kein Auto mehr). Foto: Annette Steiner


Mit dem Motor springt auch das Radio an. Der Historiker René Schlott fordert von Politik, Wissenschaft und Medien eine selbstkritische Analyse zum Umgang mit Fehlern aus der Corona-Zeit. Vor allem für den Herbst. Ich höre nur Stichworte, lasse den Beitrag an mir vorbeirauschen. Im Herbst passiert doch sowieso wieder das Gleiche. Sind die Leute wieder drinnen, gehen die Zahlen wieder hoch. So einfach ist Murmeln.  

 “The Lathums” singen “How beautiful life can be”. Ich kriege sofort gute Laune und zappele auf meinem Sitz und wackel mit meinem Kopf im Takt der Musik.

Thüringen oder Ostsee. Das ist die Frage…

 Krakow am See habe ich schon lange verlassen. Und doch stehe ich noch in Gedanken an der Kreuzung am Ortsausgang. Jetzt nicht nach Güstrow geradeaus auf der L 37 fahren, sondern Richtung Autobahn 19. Vielleicht ans Meer! Oder einfach spontan nach Thüringen. 

 Einfach bei Mama vor der Tür stehen und so ankommen wie immer. Ankommen in Weimar heißt heiße Wiener Würstchen mit Bornsenf. Heißt frisches selbstgebackenes Brot. Heißt bohrende Fragen wie “Wie geht es eigentlich weiter?” Heißt der fragende Vorwurf “Man, warum machst du nichts aus Deinen Talenten?” Puhhhhh! Ich stöhne auf.  Doch lieber ans Meer? Aber: In Warnemünde findest du sowieso keinen Parkplatz. 

 Ok. Weiter. Geradeaus. Dann eben Güstrow und die L 37. Die Strecke in die Barlachstadt ist gerade wenig befahren. Seit ein paar Wochen verwest ein überfahrenes  Tier am Straßenrand. Zu groß für eine Katze. Zu braun für einen Waschbär. Anfangs stritten sich noch die Raben. Jetzt streckt der trocknende Kadaver seine steifen Pfoten nach oben und zerfällt in Fellknäuel. 

In Hoppenrade fliegt die Kuh

 In Hoppenrade führt ein Zubringer zur A 19. Direkt an der Ecke steht ein Kuhstall. Eine Seitenwand ist mit einem riesigen Bild bemalt. Kühe fahren Karussell. Ja, die Kühe haben es gut. Wie kommt man auf so ein Motiv, frage ich mich? Hat da jemand gesagt, guck mal, unsere Wand ist so kahl und traurig. Lass mal was Lustiges draufmalen. Und dann hat man gemeinsam überlegt. Man - wer ist man? Na, so ein Kuhstallvorstand. Der sucht einen Maler, der ein lustiges Kuhmotiv malen kann. Wo findet man einen Kuhmaler? Gibt es da eine Jobbörse für? Für Kunst am Bau vielleicht?

Kunst am Bau. Foto: Annette Steiner









Constien.org steht am unteren Bildrand. Karl-Michael Constien heißt der Maler. Meisterschüler von Professor Heinrich Johann Radeloff, Gründer von Schloss Mitsuko in Todendorf. Mitsuko, ein Stück Japan in Mecklenburg-Vorpommern.

Die zwei Kraniche stehen wieder in der Wiese. Junggesellen, männliche Kraniche, die nicht gebrütet haben. Sie leben in Zweckgemeinschaften und bleiben durchaus das ganze Jahr in einer Region, wenn es genügend Insekten, Eidechsen, Frösche, Mäuse oder Körner und Beeren gibt. Manchmal sehen sie aus wie Attrappen. So regungslos stehen sie da. An Tagen, an denen sich weißgrauer Bodennebel wie ein flauschiger Mantel über den Wiesen und Feldern legt, ragen die Köpfe wie kleine Wetterhähne hervor.

Das Leben ist nicht immer Pommes und Disco!

Ein Schluck Kaffee. Die Zunge schiebe ich durch den Milchschaum. Der steht immer noch wie eine Eins. Guuuuut. Ich fahre 100 km/h. Der schwarze BMW hinter mir ist ungeduldig. Immer wieder fährt er nach links, um auf der kurvigen Strecke eine Stelle zum Überholen zu finden. Was hat mein Fahrlehrer einst gesagt? Sie fahren vorwärts. Egal, was hinten los ist. Und, ein Auto hat vier Ecken. Warum muss ich jetzt an diesen Satz denken? “Ok love you bye” singt Olivia Dean. 


Die ehemalige Nerzfarm bei Klueß. Foto: Annette Steiner



Der BMW fährt nun vor mir. Inzwischen habe ich die Nerzfarm erreicht. Traurig stehen die Holzhütten mit den rostigen Käfigen auf dem großen verlassenen Gelände. Manchmal denke ich, dass ich wie durch eine große Welle voller Tierleid fahre. Etwas atmosphärisches, unlogisches und gefühltes. Flashs trauriger Tiere. Wer macht sowas? Wer kann davon leben, Tiere zu quälen?

Die Anlage gammelt vor sich hin.  Foto: Annette Steiner



Jetzt nicht, jetzt nicht. Nicht jeden Tag. Doch jeden Tag. Das Leben ist nicht immer Pommes und Disko, behauptet Christian Steiffen.

Die Kreuzung schaltet auf Rot. Der BMW-Fahrer will geradeaus und muss bremsen. Ich biege auf die Umgehungsstraße ab und habe Grün. 

 Das Valley-Girl sagt Byyyyye

 “Alltag anders” bespricht heute das Thema “Verabschieden”. In Katar reiben sich die Menschen zur Begrüßung und zum Abschied die Nasen, Inder verabschieden sich am Telefon grundsätzlich nicht. Das Valley-Girl in Los Angeles sagt Byyyyye. Das Byyyyye gefällt mir und ich wiederhole es. Byyyyye. Byyyyyyye. “Belle und Sebastian” singen “Young and Stupid”.

 Die Taube sitzt wieder auf dem geköpften Apfelbaum in der Gartenanlage. Ich stehe im Stau. Eine junge Frau mit einem schwarzen Rock geht vorbei. Ich starre auf den Schlitz. Wie könnte man sowas nähen? Würde mir ein Rock mit so einem Schlitz stehen? Vermutlich nicht. Vielleicht doch. Egal. Quatsch.

 Stop and go. Ich biege ab und nutze die Kopfsteinpflasterstraße an der Schule vorbei. Autos spucken Kinder aus. Ich fahre sehr langsam durch die Allee wie durch ein Meer aus japanischen Kirschblüten. Wie hieß der Film? Kirschblüten Hanami. 

 An der Ecke steht der alte Mann wieder regungslos. Sein großen Boxer, hat sich zu seinen Füßen abgelegt. Der Mann sieht aus wie eine Skulptur - nicht  wie jemand, der ein Kind zur Schule bringt. Eine abgenutzte hellblaue Maske hängt unter seinem Kinn. Sein Blick ist stumpf, nur seine Augen sind unruhig. Auf dem Kopf trägt er ein blaues Basecap.

Jeder Treppenabsatz ein Gewinn für die Gesundheit

Noch dreimal abbiegen. Rechts. Geradeaus. Links, nochmal links. Ich parke. Lenkradsperre rein. Nicht die Zentralverriegelung drücken. Ok. 

Ich betrete das Industriegebäude. Fahrstuhl oder Treppe? Treppe. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Jeder Treppenabsatz ist ein Gewinn für die Gesundheit. Ehrlich? Ich schnaufe.

 

Virtuelle Schule mit Vogelgezwitscher und Bergpanorama. Foto: Annette Steiner

Tür auf, Hallo durch den Raum rufen. Die Fenster sind geöffnet. Straßenlärm und frische Morgenluft wehen herein. Rechner an. Einloggen. Klick, klick. 3-D-Learnspace. Avatar? Bleibt so. Die Hose geht noch. Das stylische Schulgebäude mit Urlaubskulisse aus schneebedeckten Bergen baut sich auf. Fahrstuhl, Treppe, Auditorium. Platz finden. Check: Sitze ich? Mikro aus? Im Chat wird “Guten Morgen” gewünscht. Na, dann: Moin aus Güstrow!


 

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