Der Weg nach Grumant - Erinnerung an ein Kinderbuch

Ein abgegriffener Leineneinband. Graublau, taubenblau, glaube ich. "Der Weg nach Grumant" von K. Badygin. Den Namen des Autors musste ich zugegeben googlen. Die Erinnerungen sind wieder da. Es war für mich ein düsteres Buch.

Es war das einzige Buch meines Vaters. Ich glaube, es war das einzige Buch, welches er jemals gelesen hatte. Gefühlt alle Bücher in der Schrankwand aus massiven Holz gehörten meiner Mutter.  Diese Schrankwand, die Erinnerung daran, das ist das Bild unseres Wohnzimmers meiner Kindheit. In den Raum gestellt eckige Sessel bezogen mit einem braunen Synthetikstoff. Als Kind nahm ich mir ein Polster und legte mich zum Fernsehen auf den Boden. Ich sehe mich und meinen Bruder leidenschaftlich vor dem Fernseher Orchester dirigieren - meist an Weihnachten, wenn nichts anderes im Fernsehen lief als klassische Konzerte.

"Das muss man mal gelesen haben" brummte mein Vater, als er sah, daß ich das Buch in der Hand hatte. 

Es war ein fremdes Buch für mich, das neunjährige Mädchen. Ein gestrandetes Team im Polarkreis. Eis, Hunger, Skorbut. Skorbut. Das war ein neues Wort für mich. Das Buch roch irgendwie nach Fisch für mich. Und nach Eis, dem richtigen fast hellblauen Eis. Und vielleicht riecht heute noch Eis nach Fisch für mich und umgekehrt. 

Ich habe mich in dieses Abenteuer gestürzt. Seite um Seite mitgefiebert, wie es den Männern im Eis wohl ergehen wird. Werden sie überleben?

Es war ein Buch, das mein Vater gelesen hatte. Mein Vater ist uns drei Kindern immer etwas fremd geblieben. 

Als ich das Buch gelesen hatte, wußte ich, dass Skorbut etwas mit diesem Vitamin C zu tun hat, dass Menschen viel aushalten können, was Freundschaft bedeuten kann und dass es am Ende der Welt einsam ist. Außer mir und meinem Vater hat in unserer Familie niemand "Der Weg nach Grumant" gelesen. Es ist rückblickend unser gemeinsames Abenteuer geworden, über das wir uns nie unterhalten haben.

PS: Ich habe diesen Text in unserer Familiengruppe gepostet. Meine Mutter antwortet mir: Dein Vater hat noch mehr gelesen: "Der Graf von Monte Christo", "Die Elenden" und "Jakob der Lügner".